Interview mit dem Bundesvorsitzenden Matthias Boek
Herr Boek, Sie wurden auf dem Bundeskongress 2023 in Berlin zum neuen Vorsitzenden gewählt. Ich darf Ihnen zur Wahl gratulieren. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre?
Zuerst einmal möchte ich mich bei den Delegierten des Bundeskongress für das mir und meinem Vorstandsteam entgegen gebrachte Vertrauen bedanken. Die vor uns liegenden Aufgaben sind gewaltig. Die Menschen in unserem Land erwarten einen funktionierenden Rechtsstaat. Dieser ist in einer lebendigen Demokratie essenziell. Wir als Gerichtsvollzieher sind das staatliche Vollstreckungsorgan, das dem Gläubiger zu seinem Recht verhilft und den Schuldner vor ungesetzlichen Eingriffen schützt. Mit diesem System sichert der Staat den Rechtsfrieden unter den Beteiligten der Vollstreckung. Die staatliche Vollstreckung hat deshalb eine hohe gesellschaftliche und darüber hinaus volkswirtschaftliche Bedeutung. Unser Leitbild lautet daher auch: „Fair.Konsequent.Erfolgreich.“
Welche verbandspolitischen Themen haben hierbei Priorität?
Oberstes Ziel unseres Verbandes muss es daher sein, die Zwangsvollstreckung effektiv zu gestalten und sie an die sich verändernden Rahmenbedingungen einer modernen Gesellschaft anzupassen. Bei diesem Entwicklungsprozess dürfen natürlich die Kolleginnen und Kollegen nicht vergessen werden, die mit ihrer täglichen Arbeit erst dafür sorgen, dass diese hehren Ziele auch Realität werden.
Welchen Mehrwert hätte eine Übertragung der Forderungspfändung auf den Gerichtsvollzieher?
Die Neuordnung von Zuständigkeiten, welche kürzlich durch das Bundesministerium für Justiz angeregt wurde, greift eine bereits seit vielen Jahren von unserem Verband erarbeitete Idee zur Effizienzsteigerung auf. Der durch die Übertragung der Abnahme der eidesstattlichen Versicherung im Jahr 1999 eingeleitete Paradigmenwechsel in der Zwangsvollstreckung wurde durch die Reform der Sachaufklärung im Jahr 2013 manifestiert. Lag bis dahin der Fokus im Zwangsvollstreckungsverfahren noch auf der Mobiliarzwangsvollstreckung, so wurde nun die Ermittlung von Forderungen des Schuldners zum zentralen Vollstreckungsinstrument. Die im Verfahren auf Abnahme der Vermögensauskunft inkl. der bei der Einholung von Drittauskünften gem. § 802 l ZPO erlangten Informationen werden bislang an den Gläubiger weitergeleitet. Diesem wird überlassen diese Informationen zu bewerten und ggf. die ermittelten Forderungen mittels Antrag auf Erlass eines Pfändungs- und Überweisungbeschluss beim Vollstreckungsgericht zu monetarisieren. Dieser Prozess ist zurzeit mit vielen Medienbrüchen und damit einem erheblichen Zeitverlust verbunden. Die vom BMJ ins Auge gefasste Übertragung der Forderungspfändung auf die Gerichtsvollzieher würde diesen Prozess um ein Vielfaches beschleunigen. Die größte Effizienzsteigerung würde in der Straffung des zeitlichen Ablaufes liegen. Vergehen heute zwischen der Ermittlung der Forderung des Schuldners, der Übermittlung dieser Information an den Gläubiger, dem Antrag an das Vollstreckungsgericht auf Erlass eines PfÜB, der Weiterleitung des erlassenen PfÜB wieder an einen Gerichtsvollzieher, damit dieser an den Drittschuldner zugestellt werden kann, vielfach mehrere Wochen, könnte dieser Ablauf auf wenige Stunden bei einer elektronischen Zustellung verkürzt werden. Außerdem würden die Medienbrüche entfallen als auch alle Beteiligte einen deutlich geringeren personellen Aufwand haben.
Sollten weitere Aufgaben auf den Gerichtsvollzieher übertragen werden?
Um den Beruf des Gerichtsvollziehers in Deutschland zukunftsfähig zu gestalten, muss man auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. So könnten die Gerichtsvollzieher, analog zu einigen europäischen Nachbarn, einfache Tatsachenfeststellungen für Gerichtsverfahren vornehmen. Auch könnten vom Gerichtsvollzieher in Zukunft Zustellungen innerhalb der EU bewirkt werden, wenn die gesetzlichen und technischen Rahmenbedingungen geschaffen sind.
Neben dem Gerichtsvollzieher gibt es Vollstreckungsbeamte in Deutschland, die mit Einziehung von Forderungen im Außendienst beauftragt werden. Nennen kann mir hier die bspw. die Vollstreckungsbeamten der Städte und Kommunen, des Hauptzollamtes, der Krankenkassen und des Finanzamtes. Wäre nicht eine Übertragung auch dieser Vollstreckungsaufträge auf den Gerichtsvollzieher sinnvoll? Welchen Mehrwert hätte eine Übertragung?
Das Vollstreckungswesen in Deutschland ist stark zersplittert. Eine Konzentration auf den Gerichtsvollzieher böte viele Vorteile. Läge die Vollstreckung all dieser verschiedenen Forderungen in nur einer Hand, könnte dem Schuldner z.B. eine effektivere Ablösung seiner Verbindlichkeiten durch Ratenzahlungsvereinbarung mit nur einem Vollstreckungsbeamten angeboten werden. So agieren die verschiedenen Behörden derzeit oftmals parallel, was dazu führt, dass der Schuldner schnell den Überblick verliert und möglicherweise unrealistische Ratenzusagen trifft. Die Abschaffung von Doppelstrukturen bietet den jeweiligen Behörden natürlich auch enorme Einsparpotenziale.
Der Bundeskongress stand unter dem Motto „Digitalisierung und Modernisierung“. Was muss aus Ihrer Sicht dringend angegangen werden?
Die zunehmende Digitalisierung des Lebensalltags in unserer Gesellschaft ist die größte Herausforderung unserer Zeit. Hier muss auch das Zwangsvollstreckungsrecht und damit der Beruf des Gerichtsvollziehers Schritt halten. Dringendstes Ziel muss es jetzt sein, für die gerade eingeführte elektronische Zustellung die notwendige Akzeptanz sowohl bei den professionellen Empfängern aber auch bei den Kolleginnen und Kollegen zu schaffen. In diesem Themenkomplex sehe ich auch die Einführung der E-Akte. Hier sind die Justizverwaltungen gefordert, bis Ende 2025 funktionierende (!) Lösungen z.B. für das rechtssichere Scannen und Speichern von Dokumenten sowie die entsprechenden Schnittstellen zu den einzelnen Fachanwendungen anzubieten.
Ist die Besoldung der Gerichtsvollzieher im Statusamt A8 und A9 noch zeitgemäß?
Nein! Das Berufsbild des Gerichtsvollziehers hat sich in den letzten 25 Jahren völlig gewandelt. War das formalisierte Zwangsvollstreckungsverfahren bis dahin noch eher „handwerklich“ geprägt, so sind durch die immer komplexer werdenden Aufgaben die Anforderungen an die Gerichtsvollzieher stark gestiegen. Von den Gerichtsvollziehern werden nicht nur umfangreiche Rechtskenntnisse erwartet. Sie müssen auch über soziale und interkulturelle Kompetenzen verfügen. Staatliches Handeln muss heute in Zeiten von Reichsbürgern, Wutbürgern und Demokratieleugnern mehr denn je nachvollziehbar erklärt und begründet werden. Trotzdem nimmt Gewalt gegen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes stetig zu. Auch organisieren die Gerichtsvollzieher ihren Bürobetrieb mit seinen Arbeitsabläufen selbständig, mit der Folge, dass zur Wahrnehmung der Aufgaben als Arbeitgeber neben Kenntnissen im Arbeits-, Sozialversicherungs- und Steuerrecht auch Softskills zur Mitarbeiterführung nötig sind. Die Verträge mit Verfahrenshelfern wie Speditionen und Schlüsseldienst schließt der Gerichtsvollzieher im eigenen Namen. All diese Anforderungen lassen sich nicht mehr in einer berufsbegleitenden Fortbildung vermitteln. Notwendig ist hier eine Reform der Gerichtsvollzieherausbildung. Das Land Baden-Württemberg ist vor einigen Jahren mit der Schaffung eines Studiengangs für Gerichtsvollzieher an der Hochschule für Rechtspflege in Schwetzingen einen wichtigen Schritt gegangen. Die positiven Erfahrungen mit den Absolventen dieses Bachelor-Studienganges sollte allen anderen Ländern Anlass geben, diesem Beispiel zu folgen. Auch in meiner Heimatstadt Berlin will man diesen Weg nun beschreiten und mit Einführung des Studienganges Gerichtsvollzieher LL.B. an der Hochschule für Wirtschaft und Recht das Eingangsamt für Gerichtsvollzieher mit A9 im gehobenen Dienst ansiedeln. Dies trägt den eben beschriebenen Veränderungen Rechnung und schafft die Grundlage für eine moderne, zukunftsfähige Zwangsvollstreckung.
Brauchen wir ein Gerichtsvollziehergesetz?
Auch diese Frage lässt sich klar mit ja beantworten. Die wichtige Tätigkeit der Gerichtsvollzieher kann sich in der heutigen Zeit nicht mehr allein aus dem § 154 GVG ableiten. Hier ist zur Schaffung von Klarheit und Rechtssicherheit ein eigenes Gerichtsvollzieherstatusgesetz notwendig, analog zum Rechtspflegergesetz.
Es gibt Bestrebungen in Richtung eines Titelregisters. Wie müsste dies konkret ausgestaltet sein?
Die Schaffung eines Titelregisters ist durch die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs gem. § 130a ZPO und dem damit verbundenen vereinfachten Vollstreckungsauftrag gem. § 754a ZPO notwendiger geworden denn je. In diesem Register müssen alle Arten von Titeln erfasst werden. Gleichzeitig müssen die Vollstreckungs- und Rechtsnachfolgeklauseln hinterlegt sein und die Forderungen nebst eventuellen Teilzahlungen vermerkt werden. Nur in dieser Form verschafft das elektronische Titelregister allen Beteiligten in Zeiten der papierlosen Kommunikation die notwendige Rechtssicherheit über den Bestand einer Forderung.
Vollstreckungsaufträge werden mittlerweile überwiegend elektronisch gestellt. Sollte die Nachsendung der Titel per Post zukünftig entfallen?
Der elektronische Auftrag gehört zusammen mit dem elektronischen Titelregister gedacht. Die derzeitige Fassung des § 754a ZPO erscheint willkürlich. Warum die Übersendung von Vollstreckungsbescheiden bei Unterschreitung einer bestimmten Betragsgrenze entbehrlich ist, ein Urteil aber davon ausgenommen wurde, erschließt sich mir nicht. Auch führte diese Beschränkung zum Zwang einer hybriden Antragstellung bei Aufträgen nach dem Justizbeitreibungsgesetz, die nun jedoch durch höchstrichterliche Rechtsprechung beendet wurde. Darum ist die oben geforderte Einführung eines elektronischen Titelregisters so dringend notwendig, um die Nachsendung von Titeln per Post künftig entbehrlich zu machen.
Deutschlandweit ist festzustellen, dass einige große Inkassounternehmen Ihren Vollstreckungsaußendienst massiv ausgeweitet haben. Vollstreckungsaufträge werden von diesen Inkassounternehmen kaum noch gestellt. Sehen Sie hier ein Problem?
Wie ich bereits zuvor ausgeführt habe, sehe ich den Gerichtsvollzieher als das zentrale, staatliche Vollstreckungsorgan. Die Ausübung jeglichen Zwanges ist eine hoheitliche Aufgabe des Staates, welchem ein enger gesetzlicher Rahmen gesetzt ist. Dafür steht der Gerichtsvollzieher. Der Ausweitung der Außendiensttätigkeit von Inkassounternehmern stehe ich kritisch gegenüber, da die Grenzen zwischen einer zulässigen Ansprache des Schuldners und einer unzulässigen Vollstreckungshandlung durch Inkassomitarbeiter schnell überschritten sind. Sinnvoll an dieser Stelle ist eine staatliche Aufsichtsbehörde für Inkassounternehmen. Hierzu hat Bundesjustizminister Dr. Buschmann vor einem Jahr einen Gesetzentwurf zur Zentralisierung der Inkassoaufsicht vorgelegt, welches im März 2023 im Bundestag verabschiedet wurde, allerdings erst in wesentlichen Teilen am 01.01.2025 in Kraft treten wird. Die Wirksamkeit dieser Regelungen werden wir aufmerksam beobachten.
Bundesvorsitzender des DGVB